Literatur

Benedict Wells – Spinner

Noch eine Kopie

Ich sehe mich auf einer der Lesungen des Autors. Im Roman stellt sich der Protagonist diese Situation auch selbst schon einmal gerne vor. Dort sitzend, stelle ich eine Frage.

„Ja gut. Sie haben jetzt ihr Leben, wie es sich mit Anfang 20 in Berlin dargestellt hat, aufgeschrieben. Was unterscheidet dieses Buch von jedem anderen Tagebuch eines großen Jungen; außer dass Sie offensichtlich jeden auch noch so kleinen Gedanken für wichtig gehalten haben?“

Der Autor würde mich lange anschauen und schließlich finden, dass seine Geschichte einfach viel wahrer sei.

Wenn diese Geschichte wahr ist, ist sie wichtig, denn dann ist sie authentisch. Und dann stecken ein paar schöne Zufälle drin, die nicht alltäglich sind und die man gerne einmal liest.

Ist diese Geschichte aber ausgedacht, ist sie ausschließlich schlecht geschrieben. Was soll ein erwachsener Leser mit diesen holzschnittartigen Darstellungen anfangen? Oder mit dem tapfer durchgehaltenen Telegrammstil?

Es mag ein schwäbischer Neubewohner in PrenzlBerg glauben, er wohne in Berlin oder so wie in diesem Roman, sei die späte Jugend, jetzt echt. Das kann jeder glauben, der mag. Oder er kann irgendwo anders eine gute Geschichte lesen.

Zum Beispiel dort, wo die Originale zu diesem Werk liegen. Bis ins kleinste Detail den eigenen Tränenfluss beschreiben aber seine Figur nicht wissen lassen, warum sie grade heult wie ein Schlosshund, das konnte schon der Erfinder von Holden Caulfield. Das brauche ich nicht noch einmal aus Berlin-Dahlem erzählt bekommen.

Was es für einen Autor bedeutet, einen größeren Geschichtenerzähler wie John Irving oder so wie in diesem Buch den Erfinder einer immer noch als authentisch geltenden Schreibe zu imitieren, dem will ich hier lieber nicht nachgehen. Nach all dem warte ich daher immer noch auf ein Buch des Benedict von Schirach.

Darüberhinaus enthält die Story Fehler.

Kein Sohn, dessen Vater sich gestern umgebracht hat, wirft den allein an ihn gerichteten Abschiedsbrief in den Mülleimer, ohne ihn nicht wenigstens später wieder herauskramen zu wollen.

So etwas macht wohl der sehr lebenserfahrene Jean Gabin mit einem Brief von der Dietrich. Aber kein unsicherer Jüngling, den bislang ausschließlich die Neugierde im Leben weiter gebracht hat.

Würde er das tatsächlich tun, so wäre dieses Verhalten ideal. Man sollte sich derart grade verhalten, wenn man das Ereignis, welches hinter einem solchen Brief steht, nicht wahrhaben will, wenn man es verdrängen will. Aber kein Mensch wirft den letzten Brief seines Vaters ungelesen weg, nicht wirklich.

Aus der Schilderung eines jungen Lebens wird somit fiktive Literatur. Als solche aber ist sie schlecht geschrieben; ich wiederhole mich.


erschienen bei Diogenes am 1. September 2016

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